Die Wolken sind mittlerweile so schwer und dunkel-lila geworden, dass sie fast in den See fielen. Der Wald, der den See umrandete und sich dahinten noch ausstreckte, schwieg angespannt. Eine Krähe auf dem Wipfel der rotzapfigen Kiefer krähte knarzig, sie kündigte den Regen an. Lita packte schnell alles wieder in die Schatulle hinein. Alle drei Frauen standen auf und Lola, die die ganze Zeit daneben graste, ging schon alleine in Richtung des Näh-Häuschens.
Die Frauen folgten Lola, die in der geladenen Luft besonders stark und urig nach Schaf roch. Sie umarmten sich und verabredeten, sich hier in zwei Wochen wieder zu sehen, wenn Lita ihre Oma wieder besuchen kommen wird. Der erste schwere Regentropfen fiel Lita direkt auf die Nasenspitze. „Danke, Karoline und Tatiana! Bis zum nächsten Maaaaal!“, rief Lita schon im Laufen.
Sie spürte, dass jemand da oben die Regendusche auf volle Leistung einstellte, und hielt die Schatulle fest unter der rechten Schulter. Lita hegte die Hoffnung, dass der mächtige Zauberer die Schatulle wasserdicht machte. Es blitzte und donnerte, regnete in Strömen, aber die Spannung in der Luft war spurlos verschwunden: Laut, nass und lustig war es jetzt. Schon auf dem halben Weg war Lita komplett durchnässt, dann hörte sie auf zu laufen und genoss das Erleben der Naturgewalt.
Als sie bei ihrer Oma ankam, wartete schon warmes Essen auf sie. Lita zog sich etwas Trockenes an (was für ein Vergnügen der Regenschauer war!), öffnete kurz die Schatulle, um sicher zu stellen, dass sie noch zauberfähig ist, und leistete ihrer Oma Gesellschaft beim Abendessen. Die beiden verbrachten den Abend sehr gemütlich zusammen.
Morgens früh packte Lita das noch etwas feuchte Kleid von Gestern zu den anderen Sachen dazu, putzte Zähne, wusch sich und verabschiedete sich nach dem Frühstück ganz herzlich von ihrer Oma.
Zuhause angekommen, freute sich Lita auf ihre Familie, auf ihren Alltag und auf ihre Freunde. Die Tage waren voll und Lita hatte erst am Wochenende Zeit, um ihr zauberhaftes Kleid weiter zu nähen. Sie stand morgens früh mit der Sonne auf, als die ganze Familie noch schlief und alle Stadtgeräusche auf stumm geschaltet waren, nur der wunderschöne Amsel-Gesang war zu hören. Lita wusch sich mit kaltem Wasser, machte ein paar Übungen, kleidete sich in einen langen Rock und eine Bluse, dann löste sie ihren Nachtzopf (am Scheitel), kämmte ihre Haare, flechtete einen Tageszopf (am Genick) und setzte sich auf die Couch.
Die Nadel stieg hoch und senkte sich wieder, Lita versiegelte alle Nähte mit Blindstich. Es war so schön entspannend! Sie fühlte, wie ihre Finger etwas Wunderbares erschaffen und fühlte sich wie ein echtes Weib. Als ob sie mit dieser energetischen Handarbeit in den weiblichen Kraftkreis ihrer Ahninnen aufgenommen wurde.
Als Litas ältester Bruder aufstand und joggen ging, waren alle langen Nähte schon versiegelt und Lita fing sogar an, die zweite Ärmelverlängerung anzunähen. Dann stand der Vater auf, begrüßte fröhlich, aber erstaunt seine nähende Tochter und machte sich in der Küche ans Pfannkuchenbraten. Lita versiegelte gerade die Nähte der Ärmelverlängerung, als ihr junger Bruder und gefolgt von ihm ihre Mutter aufstanden, anscheinend geweckt vom öligen Pfannkuchen-Qualm.
Der ältere Bruder kam gerade verschwitzt und mit rotem Gesicht vom Jogging zurück. Es bildete sich vor dem Bad eine kleine Warteschlange und die ruhige Magie des frühen Morgens verflog wie der Qualm beim Abzug. Lita packte die Nähsachen in die Schatulle und streckte sich nach dem langen Sitzen. Beim gemeinsamen Frühstück mit noch warmen Pfannkuchen (die vom Vater sind die Leckersten auf der ganzen Welt!) erzählte jeder, was er vorhatte.
Tagsüber unternahm die ganze Familie einen gemeinsamen Ausflug ins Freibad, das sehr voll war, weil das schöne Wetter die Idee mit dem Freibad jedem förmlich ins Ohr flüsterte. Als Abends wieder Ruhe einkehrte, stellte sich Lita einen Gartenstuhl unter die Süßkirsche und dachte dabei: „Diese Kirschkugeln sind noch unreif wie mein Kleid, aber es ist vom Baum genauso wie von mir schon so viel gemacht worden. Nur noch ein bisschen und bald werden süße Früchte zu ernten sein!“
Lita nähte die Manschetten ein, klappte sie um und in leiser Freude nähte sie sie mit dem Blindstich an die obere Seite des Kleides. „Tadaaaa!“, rief Lita und fügte dann leise hinzu: „Fast fertig! Nur noch der Bodensaum. Aber erst mal sollte ich das Kleid so tragen, mindestens zwei Nächte drin schlafen, damit es die Form annimmt und sich nicht mehr verzieht.“
Lita legte alles bis auf das Kleid in die Schatulle hinein, ging ins Haus und zog sich in ihrem Zimmer um. Sie legte ihr Energiekleid auf das Bett, zog ihre alte Kleidung komplett aus und rutschte nackig in das Kleid hinein. Lita streckte ihre Arme nach oben, ihre Hände glitten in die Ärmeln und kamen aus den Manschetten raus, ihr Kopf fand den Ausschnitt und der ganze Körper spürte den Luftstrom, den das Kleid wie ein Fallschirm beim Fallen auf sie erzeugte.
Dem warmen Luftstrom folgte die kühle Schwere des dichten Leinens, als ob sich Lita unter einem Zauberwasserfall stellte, der ihre Schulter und Rücken, ihre Brust, ihre Hüfte und Beine sanft kühlte. Das Kleid ließ sie ihren Rücken grade machen, sie stand da völlig glücklich mit majestätischer Körperhaltung. Dann drehte sie sich hin und her und spürte die Luftbewegungen um ihre Beine herum und die sanfte Berührungen des Leinens.
Lita wurde zum Abendbrot gerufen, so kam sie aus ihrem Zimmer und ging zur Treppe. Beim Gehen machte ihr wundervolles Leinenkleid so ein Geräusch, als ob es donnerte, aber so leise, als ob es flüsterte. Das gefiel Lita so gut, dass sie lachte vor lauter Freude! Als sie die Treppe hinunterging, kam die Luft in Strömen in das Kleid rein, umwehte sie und ließ Lita fast schweben.
Das Erstaunen und die Bewunderung konnte sie auf allen Gesichtern ihrer Familie sehen, als sie ins Wohnzimmer kam, wo gerade das Essen serviert wurde. „Wow, Lita, Du siehst wie eine junge mittelalterische Fürstin aus! Wer hätte das gedacht?!“, sagte der ältere Bruder. „Eine sehr hübsche junge Fürstin, wohl gemerkt! Eure Majestät, bitte machen Sie uns ein Gefallen und speisen Sie mit uns!“, fügte der Vater hinzu. „Meine Güte, Lita, Du bist doch ein Mädchen! Nicht schlecht!“, klang ein großes Lob aus dem Munde des jüngeren Bruders. „Meine liebe Lita, Du siehst wunderschön aus! Und dieses Kleid hast Du selber mit der Hand genäht?! Unglaublich! Magst Du es mir bitte auch beibringen?“, die Mutter war sehr berührt.
Lita trug das Kleid den ganzen Abend lang und schlief auch in ihm. Es fühlte sich einfach wunderschön an, wie eine schwebende Schutzhülle. Sie brauchte nicht mal eine Decke, obwohl das Fenster hinter den Gardinen weit geöffnet war und es kurz vor dem Sonnenaufgang richtig frisch wurde. Lita nahm durch den Traum diese Sommernachtfrische wahr – es roch so schön nach Tau! Dann zog sie ihre Füße einfach unter das Kleid und setzte ihren erholsamen Schlaf fort. Sie träumte davon, wie sie in ihrem weißen Kleid in den Bergen fliegt.