Nicht mal die Hälfte der Nähte gelang es Lita bis zum Mittag zu versiegeln. Dafür genoss sie den Prozess sehr. Hauptsache, sie hat die Nähte bei den Zwickeln und um die Zwickel herum versiegelt – das sollte sie machen, bevor sie die Leinenfeen heute besuchen geht. Lita trank aus der Kanne leckeres Wasser und merkte: Sie war noch zur Hälfte voll.
Lita packte alles bis auf die Körner in die Schatulle und ging den bekannten Weg. Sie dachte an ihre Eltern und ihre beide Brüder, sie vermisste sie alle schon und ihre Gedanken beziehungsweise Gefühle hatten gleichzeitig noch einen bitteren oder sogar stechenden Beigeschmack:
Als sie nach der letzten Rückkehr von der Großmutter nach Hause alles aus der Liste für ihr Kleid besorgte, war die ganze Familie äußerst skeptisch: Handarbeit mochte Lita noch nie und das wussten ihre Liebsten natürlich am besten. Sie meidete Basteln sowohl in der Kita als auch in der Schule und überhaupt: der mädchentypische rosafarbene, kichernde
Puppen-Pferde-Freundschaftsbändchen-Kram widerte sie an. Dafür war sie für grobe Motorik wie Laufen, jegliche Ballspiele, Schwimmen, aber auch für philosophische Gespräche, genauso wie ihre beiden Brüder, immer zu haben. Ihre Mutter scherzte manchmal, dass sie drei Söhne hat.
Keiner aus der Familie konnte sein Erstaunen und Scherze verkneifen, als sie Lita eine Beleg-Schablone ausschneiden sahen. Ihre Mutter konnte ihren eigenen Augen kaum glauben und freute sich sehr. Litas Mutter strickte und häkelte gerne und nähte manchmal mit der Nähmaschine. Als sie die fertigen Schablonen sah, wusste sie, dass ihre Tochter es mit dem energetischen Nähen ernst meinte und sie begleitete Lita sogar beim Kaufen von all den Sachen von der Liste.
Lita machte sich Sorgen, wie ihre Familie sie im Kleid annimmt. Ob sie von den Brüdern ausgelacht oder sogar abgestoßen wird, weil sie jetzt zu mädchenhaft geworden ist? Ob ihre Mutter von den laienhaften Nähten nicht enttäuscht sein wird? Plötzlich sah Lita, dass sie vor einer Kluft stand, die sich mitten auf ihrem Weg auftat – ungefähr so breit, wie Lita groß war.
Sofort kam der Gedanke, dass die Kluft etwas mit der Beziehung zur Familie zu tun hat. So ist Lita jetzt klar geworden, dass ihre Sorgen sie belasten, aber sehr wahrscheinlich umsonst sind. Ihre Familie steht hinter ihr, egal was für einen Lebensstil sie gerade hat, das empfand Lita immer mehr. Sie spürte, wie aus ihren Schulterblättern zwei mächtige Flügel wachsen: Der linke für die Mutter und ihre Ahnen und der rechte für den Vater und seine Erzväter. Jede Linie teilte sich in zwei, wie ein binärer Baum, fächerte sich auf. Die Flügel gaben Lita einen federnden Impuls, sie sprang hoch und schwebte über die Kluft.
Lita kam wie beflügelt zu Karoline und Tatiana. Und was für ein Zufall, die Männer und die Kinder von ihnen waren auch da! Ein wahrer Familientag heute. Es war recht laut und lustig, weil gerade die letzte Runde eines Brettspiels zu Ende ging. Lita war sehr froh, alle kennen zu lernen. Dann zogen sich die drei Frauen zum Seeufer zurück, wo die Schwere der geladenen Luft auf einen Regen anspielte.
Alle drei setzten sich auf eine Bank, die an der Feuerstelle mit kalter Kohle am Seeufer stand. Lita holte aus der Schatulle ihr Kleid raus. „Oh, Du warst so fleißig! Und alle Nähte in die positive Drehrichtung gemacht! Sogar teilweise schon versiegelt, sehr schön!“. Gleich nach dem wohlverdienten Lob fingen sie an, die Ärmelverlängerungen zu berechnen.
Da das Maß „Manschettenausschwung“ bei Lita 10 Zentimeter größer als die Stoffbreite war, bräuchte sie zwei je 5 cm breite Ärmelverlängerungen. Sie kamen zu dieser Lösung mithilfe eines Entscheidungsbaums (Algorithmus), den Tatiana mit einem Stock auf der daneben stehenden Eiche zeichnete. An jeder Verzweigung gibt es eine Frage und jenachdem, ob man sie mit „ja“ oder „nein“ beantwortet, wählt man einen bestimmte Ast aus, der im Endeffekt zu einer der vier Lösungen führt.
Anschließend schnitt Lita die Ärmelverlängerung und die Manschetten aus den Stoffresten aus. Karoline erklärte Lita, wie man sie am besten annäht.